Pflicht des Arbeitgebers zur Zuleitung der Mitteilung über eine beabsichtigte Massenentlassung an die Arbeitsagentur ist nicht individualschützend
Die in Art. 2 III Unterabs. 2 der RL 98/59/EG (Massenentlassungsrichtlinie - MERL) vorgesehene Verpflichtung des Arbeitgebers, der zuständigen Behörde eine Abschrift zumindest der in Art. 2 III Unterabs. 1 Buchst. b Ziff. i bis v MERL genannten Bestandteile der schriftlichen Mitteilung zu übermitteln, hat nicht den Zweck, den von Massenentlassungen betroffenen Arbeitnehmern Individualschutz zu gewähren.
Sachverhalt
Der Beklagte ist Insolvenzverwalter in einem 2019 eröffneten Insolvenzverfahren über das Vermögen der Insolvenzschuldnerin, bei welcher der Kläger seit 1981 angestellt war. Im Januar 2020 wurde die vollständige Einstellung des Geschäftsbetriebs der Insolvenzschuldnerin zum 30.04.2020 beschlossen. Beabsichtigt war zugleich die Entlassung aller 195 Arbeitnehmer. Aufgrund des Stilllegungsbeschlusses fanden mit dem Betriebsrat Verhandlungen über den Abschluss eines Interessenausgleichs und Sozialplans statt. Außerdem wurde das wegen der Massenentlassung erforderliche Konsultationsverfahren gem. § 17 Abs. 2 KSchG verbunden mit dem Interessenausgleichsverfahren durchgeführt. Entgegen § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG, der Art. 2 III Unterabs. 2 MERL umsetzt, wurde der zuständigen Agentur für Arbeit keine Abschrift der das Konsultationsverfahren einleitenden an den Betriebsrat gerichteten Mitteilung gem. § 17 Abs. 2 KSchG übermittelt. Eine Massenentlassungsanzeige bei der Agentur für Arbeit wurde erstattet. Dem Kläger gegenüber wurde danach, genau wie allen anderen Arbeitnehmern, zum 30.04.2020 die Kündigung ausgesprochen. Der Kläger erhob Kündigungsschutzklage unter Berufung auf die Unwirksamkeit der Kündigung wegen des Verstoßes gegen § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG. Das BAG legte dem EuGH die Frage zur Vorabentscheidung vor, ob Art. 2 III Unterabs. 2 MERL individualschützenden Charakter hat.
Entscheidung
Der EuGH entschied mit Urteil vom 13.07.2023, C-134/22, die Pflicht, der zuständigen Behörde eine Abschrift zumindest der in Art. 2 III Unterabs. 1 Buchst. b Ziff. i bis v MERL genannten Bestandteile der schriftlichen Mitteilung an die Arbeitnehmervertretung zu übermitteln, bezwecke nicht den Individualschutz der von Massenentlassungen betroffenen Arbeitnehmer. Die in der MERL vorgesehene Übermittlung von Informationen an die zuständige Behörde diene nur zu Informations- und Vorbereitungszwecken. Ihr Zweck bestehe darin, es der Behörde zu ermöglichen, die negativen Folgen beabsichtigter Massenentlassungen soweit wie möglich abzuschätzen, damit sie, wenn ihr diese Entlassungen angezeigt werden, in effizienter Weise nach Lösungen für die dadurch entstehenden Probleme suchen könne. In Anbetracht dieses Zwecks und der Tatsache, dass die Übermittlung in einem Stadium erfolgt, in dem der Arbeitgeber die Massenentlassung nur beabsichtigt, solle sich die zuständige Behörde nicht mit der individuellen Situation jedes einzelnen Arbeitnehmers befassen, sondern die beabsichtigten Massenentlassungen allgemein betrachten. Das in Art. 2 MERL vorgesehene Recht auf Information und Konsultation zu Gunsten der Arbeitnehmer sei als Gemeinschaft ausgestaltet und kollektiver Natur.
Praxishinweis
Aus der Beantwortung der Vorlagefrage durch den EuGH ergibt sich ohne Weiteres, dass § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG nicht Schutzgesetz i. S. d. § 134 BGB ist. Die unterlassene Zuleitung der Mitteilung an die Agentur für Arbeit führt daher nicht zur Unwirksamkeit der ausgesprochenen Kündigungen.
Unklar ist, ob die Entscheidung des EuGH darüber hinaus auch Relevanz für andere Fehler im Massenentlassungsverfahren hat, z.B. eine nicht ordnungsgemäße Durchführung des Konsultationsverfahren nach § 17 Abs. 2 KSchG oder eine fehlerhafte Massenentlassungsanzeige nach § 17 Abs. 1 KSchG. Das BAG hat ein bei ihm anhängiges Verfahren, in dem es der beklagte Arbeitgeber unterlassen hatte, Massenentlassungsanzeige zu erstatten, nach § 148 ZPO ausgesetzt, um die vorliegende Entscheidung des EuGH abzuwarten. Es hat angekündigt, auf der Grundlage der Rechtsprechung des EuGH überprüfen zu wollen, ob das von ihm entwickelte Sanktionssystem, nach dem Fehler bei der Massenentlassungsanzeige zur Unwirksamkeit der Kündigung führen, im Einklang mit der Systematik des durch die MERL vermittelten Massenentlassungsschutzes steht. Soweit das BAG meint, die Ausführungen des EuGH hätten nicht nur für die Pflicht zur Zuleitung der Mitteilung nach § 17 Abs. 2 KSchG an die Agentur für Arbeit sondern auch für andere Fehler im Massenentlassungsverfahren Bedeutung, müsste es seine Rechtsprechung ändern, nach der Folge eines Fehlers im Massenentlassungsverfahren die Unwirksamkeit der Kündigung nach § 134 BGB sein soll.
Quelle: VBF Nord